Falsche Kapitalismuskritik und struktureller Antisemitismus

Zur Kritik der Personalisierung abstrakter Herrschaftsverhältnisse

Kapitalismuskritik ist nicht immer progressiv. Ganz im Gegenteil: Kritik, die den Kapitalismus als personelles Herrschaftsverhältnis missversteht und sich dabei in antisemitische Argumentationsmuster verstrickt ist allgegenwärtig. Um diese erkennen und somit zurückweisen zu können, ist es notwendig die Grundstruktur des antisemitischen Weltbildes zu kennen.

Moderner Antisemitismus

Im 19. Jahrhundert entstand der moderne Antisemitismus als eine politische Bewegung, die Stereotype des traditionellen und vor allem religiös motivierten Antijudaismus fortträgt und doch anders funktioniert. Mit dem Umbruch zur Moderne, der Entwicklung des industriellen Kapitalismus und damit aufkommenden Veränderungen und Unsicherheiten wurden die Juden als Sinnbild alles Schlechten identifiziert. Jüdinnen und Juden werden dabei für die moderne Gesellschaft und allen damit einhergehenden Veränderungen schuldig gesprochen (vgl. etwa Bergmann/Wyrwa 2011:1).

Die eigentlichen Vorurteile sind jedoch schon viel früher entstanden. Die Kontinuität der alten Stereotype des Juden als Wucherer und der jüdischen Weltverschwörung zeigt die historische Tragweite der Entwicklung des Antisemitismus. Der Ausschluss aus Handwerk und Agrarwirtschaft infolge der Christianisierung Europas führte zu einer Abdrängung vieler Jüdinnen und Juden in die (kirchlich verpönte) Geldwirtschaft und den Handel (vgl. ebd.: 11). Dies wiederum führte zu neuen Stereotypen und Anschuldigungen. Die Verbindung von Jüdinnen und Juden mit Geld, Zins und Reichtum und mit Charaktereigenschaften wie Gier, Hinterlist und Intellekt sind traditionelle Stereotype, auf denen der moderne Antisemitismus aufbaut und derer sich auch heute in aktuellen Ausdrucksformen bedient wird. Auch der Vorwurf der Verschwörung, mit dem eine weltweite Vernetzung aller Jüdinnen und Juden behauptet wurde, die sich geheim träfen um Christus zu verspotten und nebenbei die Weltherrschaft anstrebten, hat seinen Weg zu modernen antisemitischen Verschwörungstheorien gefunden (vgl. ebd.: 12). In Kombination alter antisemitischer Stereotype werden Jüdinnen und Juden als Drahtzieher_innen ausgemacht und in ihnen alle negativen Seiten der modernen Welt personalisiert. Antisemitische Verschwörungstheorien dienen der vermeintlichen Erklärung aller möglichen ungeliebten Phänomene (Globalisierung, Terrorismus, Finanzkrise, etc.) und vor allem des Kapitalismus.

Kapitalismus und falsche Kapitalismuskritik

Diese Vorstellungen bauen auf einem falschen Verständnis des Kapitalismus auf. So ist der moderne Antisemitismus auch eine Form falscher Kapitalismuskritik, die sich lediglich gegen die unverstandenen Aspekte der warenproduzierenden Gesellschaft richtet – und nicht das System als Ganzes im Blick hat. Dabei werden die aus den gesellschaftlichen Verhältnissen resultierenden Unsicherheiten, Ängste und verdrängten Wünsche mit der einseitigen Beschuldigung von Einzelpersonen beantwortet (vgl. Stögner 2014: 109).
Anders als im Feudalismus, welcher auf klar erkennbaren personalen Herrschaftsstrukturen aufbaute, ist Herrschaft im Kapitalismus dinglich vermittelt. Der Tausch von Waren am freien Markt bildet die Basis kapitalistischer Vergesellschaftung (vgl. Schmidinger 2004: 16f.). Die Herrschenden lassen sich damit nicht mehr unmittelbar identifizieren. Die Verkennung des Kapitalismus als personelles Herrschaftsverhältnis führt zu der Vermutung, die Herrschenden würden versteckt, in Geheimbünden organisiert und im Hintergrund die Fäden ziehen (vgl. ebd.: 17).

Demgegenüber richtet sich ein Begreifen des Kapitalismus als ein auf sachlicher Herrschaft beruhendes System von vornherein gegen jede Form personalisierender Kapitalismuskritik, denn als Personifikationen ökonomischer Kategorien sind Kapitalist_innen ebenso existenziellen Sachzwängen ausgesetzt wie Lohnarbeiter_innen. Wollen Kapitalist_innen, dass ihre Unternehmen unter den Bedingungen der Konkurrenz bestehen bleiben, müssen sie der Verwertungslogik des Kapitals folgen (vgl. Heinrich 2005: 85). „Dass der einzelne Kapitalist beständig versucht, seinen Gewinn zu vergrößern, liegt nicht in irgendwelchen psychischen Eigenschaften begründet, wie etwa ‚Gier‘, es handelt sich vielmehr um ein durch den Konkurrenzkampf der Kapitalisten erzwungenes Verhalten“ (ebd.). Wollen sich Arbeiter_innen gleichsam unter den Bedingungen der Konkurrenz[1] ihre Existenz sichern, müssen sie, ebenfalls jener Verwertungslogik folgend, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen (vgl. ebd.: 88). Die Menschen bringen also selbst, durch ihr rationales Verhalten, jene Verhältnisse hervor, die ihnen bereits als gegeben erscheinen. Sie unterwerfen sich einem Herrschaftsverhältnis, das sie permanent selbst reproduzieren: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (MEW 23, 88).

Falsche Kritik fokussiert also auf die Erscheinungsebene des Kapitalismus und reduziert diesen auf unmittelbar zugängliche, oberflächliche Phänomene, die als die wahren Ursachen der Zumutungen des Kapitalismus ausgemacht werden. Dem Kapitalismus werden nur die Erscheinungen des vermeintlich Abstrakten (Zirkulationssphäre, Geld, Zins, etc.) zugeschrieben, während das vermeintlich Konkrete (Produktionssphäre, Arbeit, etc.) als nicht-kapitalistisch verstanden und zugleich positiv besetzt wird (vgl. Postone 1979: o. S.). Dass Arbeit in der Warengesellschaft (als abstrakte, wertbildende Arbeit) die Grundlage von Geld und Kapital ist und die Produktion von Gebrauchswerten (konkrete Arbeit) lediglich als (für die Verwertung des Werts) notwendiges Nebenprodukt fungiert, bleibt unbemerkt (vgl. Heinrich 2005: 46).

Insbesondere beim zinstragenden Kapital ist jener Zusammenhang dem spontanen Bewusstsein nicht zugänglich, denn in einer oberflächlichen Betrachtung erscheint die Bewegung des zinstragenden Kapitals ohne ihre notwendige Vermittlung: die Ausbeutung von Arbeitskraft in der produktiven Sphäre. Es scheint als vermehrte sich das Kapital von selbst. So schreibt Marx: „Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form. Wir haben hier G – G ́, Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertenden Wert, ohne den Prozeß, der die beiden Extreme vermittelt“ (MEW 25, 404; zu Zinskritik siehe auch Rakowitz 2010). Bei der Suche nach dem Ursprung jenes ominösen Mehrwerts kommt es deshalb zu folgenreichen Fehlschlüssen – wie Finanzmarktkritiker_innen mit ihrer vermeintlichen Kapitalismuskritik immer wieder deutlich machen.

Struktureller Antisemitismus

Einige Ansätze vermeintlicher Kapitalismuskritik funktionieren also auf eine ähnliche Weise wie der moderne Antisemitismus. Wenn als Schuldige nun nicht die Juden sondern andere Personengruppen ausgemacht werden, wird zwar kein offener Antisemitismus ausgesprochen, jedoch ein strukturell ähnliches Argumentationsmuster bedient. Diese Strukturähnlichkeit von modernem Antisemitismus und falscher Kritik wird mit dem Begriff des strukturellen Antisemitismus deutlich.

Die Struktur zeigt sich darin, dass einzelne Personen für Probleme verantwortlich gemacht werden, die sachlichen Zwängen entspringen. Eine solche Kritik ist personalisierend und wird ebenso im Antisemitismus bedient, wie auch in der oben beschriebenen falschen Kapitalismuskritik. Nicht der Kapitalismus wird bekämpft, sondern die Kapitalist_innen (vgl. Schmidinger 2004: 19). Die Argumentation zielt also am System vorbei und schreibt die Verantwortung und Kontrolle struktureller Vorgänge Einzelpersonen zu. Dabei werden dieselben Stereotype wie im modernen Antisemitismus auf „neue“ vermeintlich Schuldige angewandt: (Finanz-)Kapitalist_innen, Banker_innen, Manager_innen werden als geldgierig, hinterlistig und böswillig bezeichnet. Angegriffen werden dabei die Reichen, denen, als skrupellose Bonzen bezeichnet, eine absichtliche Verursachung von Ausbeutungsverhältnissen unterstellt wird. Mit Codewörtern wie der Bezeichnung des ausgemachten Feindes als die Spekulant_innen an der Wall Street/Ostküste oder den angeblichen 1%, die die Welt beherrschen würden ist auch der Weg zu offen antisemitischen Äußerungen nicht mehr weit.

Häufig wird dabei eine Verschwörung der Mächtigen vermutet. Der Systemcharakter wird völlig verkannt. So ist die einseitige Kritik am „Finanzkapitalismus“ auch deswegen falsch, weil Investitionen auf Kapital- und Finanzmärkten aufgrund der Konkurrenz Zwangscharakter haben. Ein Kapitalismus ohne Finanzmärkte ist undenkbar. Der strukturelle Antisemitismus einer solchen Finanzmarktkritik lässt sich wohl am deutlichsten mit einem Blick auf den „Antikapitalismus“ des Nationalsozialismus verdeutlichen. Die auch in aktueller Finanzmarktkritik oft vorgenommene moralisierende Trennung von Industrie- und Finanzkapital zeigte sich dort in der Gegenüberstellung vom schaffenden, natürlichen [arischen] und raffenden, künstlichen [jüdischen] Kapital.

Die strukturelle Ähnlichkeit solch falscher Kapitalismuskritik zu offener Judenfeindschaft ist leicht zu erkennen – und nicht selten wird letztere damit auch gefördert. Tauscht man die Namen der als schuldig ausgemachten gegen die Juden aus, wird die Struktur des antisemitischen Weltbilds offensichtlich. Auch ohne offen antisemitisch aufzutreten, werden hier gleiche Bilder und Denkweisen transportiert. Falsche Kapitalismuskritik bleibt nicht harmlos, solange ihr Gegenstand nicht in Jüdinnen und Juden personalisiert wird. In jedem Fall wird eine Feindschaft artikuliert, die jeder rationalen Grundlage entbehrt und sich früher oder später gewaltförmig zu entladen droht. Falsche Kritik muss in all ihren Ausdrucksformen als solche entlarvt und entschieden zurückgewiesen werden.

Isolde Vogel & Sebastian Schneider

Fußnoten:

1: Konkurrenzverhältnisse unter Lohnabhängigen begünstigen nicht zuletzt (unbewusste) Wünsche nach einer harmonischen Volksgemeinschaft und können auch in offen ausgetragenen Feindschaften – gegen jene die als nicht zu dieser Gemeinschaft zugehörig gelten – münden.

GEWI empfiehlt zum weiterlesen: „Volksgemeinschaft und Nationalsozialismus“ von Michael Fischer.

Literatur:

  • Bergmann, Werner/Wyrwa, Ulrich (2011): Antisemitismus in Zentraleuropa. Deutschland, Österreich und die Schweiz vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Darmstadt: WBG.
  • Heinrich, Michael (2005): Kritik der Politischen Ökonomie. Eine Einführung. 3. Auflage. Stuttgart: Schmetterling.
  • Marx, Karl (1979 [1867]): Das Kapital. Erster Band. MEW 23. Berlin.
  • Marx, Karl (1983 [1894]): Das Kapital. Dritter Band. MEW 25. Berlin.
  • Postone, Moishe (1979): Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Krisis. Kritik der Warengesellschaft. http://www.krisis.org/1979/nationalsozialismus-und-antisemitismus [Zugriff: 28.04.2016]
  • Rakowitz, Nadja (2010): Die Kritik am Zins – eine Sackgasse der Kapitalismuskritik. In: associazione delle talpe/Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen (Hg.): Maulwurfsarbeit. Aufklärung und Debatte, Kritik und Subversion, 17-21. https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_Maulwurfsarbeit.pdf [Zugriff: 20.05.2016]
  • Schmidinger, Thomas (2004): Struktureller Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik. In: AStA der Geschwister-Scholl-Universität München (Hg.): Spiel ohne Grenzen. Zu- und Gegenstand der Antiglobalisierungsbewegung. Berlin: Verbrecher; 15-25.
  • Stögner, Karin (2014): Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen. Baden-Baden: Nomos.

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